Constanze Musterer "Matthias Mayer aka Mo Magic" Jahrbuch/yearbook 2005 Künstlerhaus Schloß Balmoral, Revolver Verlag


Matthias Mayer aka Mo Magic

Es ist eher ungewöhnlich sich eine Stadt aus der Perspektive eines krabbelnden Kindes anzuschauen. Schon rein technisch ist dies schwierig, hat uns die Evolution doch den aufrechten Gang beigebracht. Auch stellt sich die Frage nach dem Sinn, ist das tendenzielle Allmachtsbestreben der Menschheit wie dieVögel fliegen zu können anstatt wie die Käfer zu kriechen. Das ist vielleicht die Erklärung dafür, dass Touristen mit entsprechendem Portemonnaie eine wachsende Leidenschaft entwickeln, Großstädte per Hubschrauber im schnellen Überblick zu erkunden. Schnelllebig, laut, überfüllt und hektisch sind nun einmal das Leben und der Verkehr in Großstädten, weshalb eine Betrachtung dieses Treibens aus gemütlicher Distanz einen nachvollziehbaren Reiz hat.

Matthias Mayer aka Mo Magic präsentiert uns in seinem Video „Porte de Berlin“ Großstadt pur und macht genau das, was eher ungemütlich erscheint. Er nimmt die Perspektive auf die Stadt mitten aus ihr heraus. Vom Straßenniveau aus, mit zum Teil nach oben gerichtetem Fokus, wird in einer rasanten Fahrt der urbane Raum entdeckt. Sein Protagonist ist ein ferngesteuertes Auto, das Matthias Mayer in einem Stil aus Pop-art und Graffiti selbst kreiert hat. Der Sound zum Video ist den Intros der Krimiserien aus den 1970er Jahren entnommen, die zumeist in der ersten Filmsequenz noch vor dem Serienhelden sein passendes Fahrzeug vorstellten. Bei Matthias Mayer ist das Auto allerdings selbst der Held, der in das raue Leben der Großstadt eintaucht und dort auch besteht. Nur scheinbar so groß wie seine grauen Artgenossen zeigt er wahrhaftigen Charakter, fährt beschwingt lächelnd davon, guckt neugierig zur Architektur hinauf oder macht auch mal wütend eine Vollbremsung. Man kommt nicht darum herum, sich mit diesem fremden und doch so schnell vertrauten Wesen zu identifizieren und nimmt unweigerlich dessen Perspektive auf die Stadt für sich ein. Die Alltäglichkeit beginnt sich zu verfremden während man dieses Alien der Straße mitverfolgt. Die Dynamik trotzt der Hektik und ein neues Gefühl von Stadt wird durch den erweiterten Blick erlebbar.

Die quirlige Fahrt, der schnelle Schnitt und Perspektivwechsel lassen einen zum Teil nur bildliche Fetzen wahrnehmen, die zugleich für Irritation sorgen. Wo sind wir eigentlich? Der französische Titel mit der deutschen Hauptstadt „Porte de Berlin“ mag andeuten, dass der poppige Held die Stadttore mindestens zweier Städte durchkreuzt. Eine ist offensichtlich Berlin, wo die Hugenotten Asyl bekamen und Napoleon die Quadriga vom Brandenburger Tor nach Paris entführte. Historische und zeitgenössische Verbindungen von Hauptstadt zu Hauptstadt, die große Schwester Paris lebt Berlin vor, wo es hingehen kann. „Porte de Berlin“ wirft die Frage auf, was diese Städte unterscheidet oder auch, was ihnen gemeinsam ist. Die schnellen Bilder und das Wissen um die Vielfalt der urbanen Räume beider Städte lassen hier keine eindeutige Antwort zu. Das Video wird zum Quiz und animiert, die Lösung aus eigener Perspektive finden zu wollen. Die Distanz aufzuheben ist der wirkliche Reiz.

Hier beginnt die künstlerische Erlebniswelt, die nur in Großstädten zu finden ist. Die Straßenkunst ist ein Phänomen der Ausdrucksform in urbanen Gesellschaften. Von der Performance über künstlerische Interventionen im Stadtraum hin zur Graffiti-Art ist sie ein separates und umstrittenes Kapitel der Kunst im öffentlichen Raum. Matthias Mayer bündelt dieses Phänomen in seinem Video und versöhnt die Positionen: Das Auto, ein rasendes poppiges Graffiti interveniert als eine ferngesteuerte Living Sculpture in den Straßenverkehr und besetzt den Stadtraum. Dass dies alles nur ein Spiel der Perspektive ist, haben wir seiner engagierten Filmarbeit zu verdanken.

Constanze Musterer
Kunsthistorikerin, Berlin 2006

aus:
Das Jahrbuch 2005/06 ist dem (Glücks)Spiel und dem (spielerischen) Zufall gewidmet.
Hrsg. von Danièle Perrier als Jahrbuch 2005/06, Band 10 des Künstlerhauses Schloß Balmoral der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur mit Textbeiträgen von Danièle Perrier, Till Exit, Max Stadler, der REINIGUNGSGESELLSCHAFT, Eva Hertzsch & Adam Page, Dorothea Kolland und Beiträgen über die Stipendiaten Sheila Barcik, Roswitha von den Driesch, Martin Durham, Till Exit, Geka Heinke, anette hollywood, Markus Kiefer, Pierre-Yves Magerand, Matthias Mayer aka Mo Magic, Cony Theis und Petra Warrass von Rainer Hoffmann, Constanze Musterer, Danièle Perrier, Britta Tewordt, Andreas Mand, Rolf Weber und Josef Winkler.

22 x 16,6 cm, 123 S., 77 Abb., Broschur (deutsch)
ISBN 978-3-86588-262-2 {Lieferbar}
25 €

https://revolver-publishing.com/balmoral-2005-2006-kunstlers-glucks-spiel.html
https://www.balmoral.de/publikationen